Geschichte, Entstehung und Prinzipien

Die Geschichte des Judo

Wie in jedem Land der Welt, so ist auch in Japan der Kampf mit bloßen Händen aus einem Bedürfnis der Menschen entstanden. In Japan hat die Kampftechnik „Mann gegen Mann“, insbesondere bei den Kriegern auf den Schlachtfeldern, den Namen Ju-Jitsu erhalten. Wegen der besonderen gesellschaftlichen Ordnung im feudalen Japan wurde das Ju-Jitsu von der Kriegerkaste den Samurai erlernt, praktiziert und vertieft und war aus diesem Grund von moralischen Lehren dem Ehrenkodex der Samurai, dem BUSHI-DO, durchdrungen.
Technik und Heranbildung des Charakters waren in den ältesten Schulen der Kampfkünste gleichbedeutend. Bis zu einem bestimmten Zeitabschnitt der Feudalperiode wurde Japan von zahlreichen Kriegen, hervorgerufen durch Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Vasallen des Kaisers, heimgesucht. Damals war „Ju-Jitsu“ ein allgemeiner Begriff für den Kampf mit bloßen Händen. Mit der Machtergreifung der Shogun, einer Dynastie der ersten Minister, die die Position des Kaisers als „Gott auf Erden“ abschaffte und das Regieren der Nation in den Vordergrund stellte, beruhigte sich die innere Lage mit der Konsequenz, dass die Kaste der Samurai wenig Gelegenheit hatte, ihre Kampfkünste im Krieg anzuwenden. Daraus folgte, dass das Studium und die Ausübung dieser „Künste“ sich von den Schlachtfeldern in die „Schulen“, die für die Ausbildung der Krieger entstanden waren, verlegte. Diese „Schulen der Kampfkünste“ differenzierten sich im Laufe der Zeit entsprechend den dort gelehrten „Besonderheiten“ (Ken-jitsu, Bo-Jitsu, Kyu-Jitsu, Ba-Jitsu, Ju-Jitsu etc.) und den Prinzipien, die dort in den Vordergrund gestellt wurden. Aufgrund dieser Unterschiede entstanden verschiedene „Schulen“ die durch die Vertiefung besonderer Techniken gekennzeichnet waren. Auch für das Ju-Jitsu entstanden diverse „Schulen“ mit verschiedenen Namen, die jedoch immer die Vorbereitung auf den Kampf „Mann gegen Mann“ zum Ziel hatten. Bekannte Schulen waren: Takenouchi-Ryu, Kito-Ryu, Tenjinshinyo-Ryo, etc.
Dieser Zustand währte bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts. Technik und Geist trugen zur Entstehung kriegerischer Disziplinen mit nahezu perfekter Wirksamkeit bei.Die Entwicklung der politischen und sozialen Situation in Japan zur Zeit der Shogun Tokugawa war von großer Bedeutung für die Vorbereitung ideologischer Umwälzungen, der die Grenzöffnung und damit der freie Kontakt zu westlichen Kulturen folgten. Diese Umwälzungen führten, als erste logische Reaktion, zum Niedergang jener tausendjährigen Prinzipien, die das japanische Volk bestimmt hatten. Die Erfindung der Feuerwaffen war dann für die Schulen der Kampfkünste ausschlaggebend und entzog ihnen die Grundlage für ihr Bestehen.

Die Entstehung des Judo

Jigoro KanoIn diesem geschichtlichen Moment wurde, dank der Intelligenz eines jungen Mannes, alles Taugliche aus den Lehren des Ju-Jitsu gerettet. Wir können sagen, dass, zumindest was die erste Zeit betrifft, die Geschichte des Judo mit der Geschichte dieses Mannes, Jigoro Kano, identisch ist. Dem jungen Kano, der damals das Ju-Jitsu in verschiedenen Schulen studierte, wurde klar, dass das wesentliche dieser Lehren einen außerordentlichen Wert darstellte. Er glaubte, dass es ein Verlust wäre, wenn diese aus jahrhundertelanger Erfahrung seines Volkes entstandenen Prinzipien verfallen oder vielleicht sogar untergehen würden. Außerdem erkannte er, dass das Ju-Jitsu, wegen seines Wertes als Selbstverteidigungstechnik und als System der Körpererziehung, in die moderne Gesellschaft verpflanzt werden konnte.
Wir müssen jedoch betonen, dass der größte Verdienst Jigoro Kanos darin besteht, im Ju-Jitsu einige Prinzipien erkannt zu haben, die nach gewissen Veränderungen als ein wirksames Erziehungssystem für den Charakter einer Person dienen. Im Alter von 23 Jahren gründet Jigoro Kano die Schule „KODOKAN“, die eine neue Disziplin, genannt „JUDO“, lehrte. Später erklärt er warum er diese Disziplin Judo anstatt Ju-Jitsu nannte: „warum ich sie Judo und nicht Ju-Jitsu genannt habe? Vor allem weil ich nicht nur „Ju-Jitsu“ („Kunst“ oder „Technik“ oder „Übung“) lehre, sondern weil ich, (um etwas zu erreichen), auf „ich gehe“ („Weg“, „Prinzip“ oder „Methode“) beharre. Überdies denken heute die Leute, dass das Ju-Jitsu etwas Hässliches und Gefährliches sei. Trotzdem wollte ich nicht einen völlig neuen Namen aussuchen, weil ich erkannte, dass das Ju-Jitsu und diese neue Disziplin gemeinsame Wurzeln und Gesichtspunkte haben.“
Als Jigoro Kano seine Schule gründete, hatte er neun Schüler und nur zwölf „tatami“. Heute hat das Kodokan Judo Millionen von Anhängern. Das Judo hat sich auf der ganzen Welt verbreitet und es wurde ein internationaler Verband geschaffen, dem die meisten Staaten der Welt angehören.

Der Geist des Judo

altes BildDas Grundprinzip des Judo ist allgemein bekannt durch die Worte von Jigoro Kano: „Ju yoku gò wo seisuru“: „Die Nachgiebigkeit kann die rohe Gewalt neutralisieren.“ Das soll natürlich als mit Technik oder Methode ausgeübte „Nachgiebigkeit“ verstanden werden.
Diesem Prinzip fügte Jigoro Kano zwei fundamentale Lehrsätze hinzu, die den Geist des Judo bestimmten: „Seiryoku zenhyo“ und „Ji ta Kyò ei“ (- Die beste körperliche und moralische Kraftanwendung – und – Mir, und den Anderen zum Besten -) Diese zwei Lehrsätze sind tatsächlich der Kern dessen was das Studium des Judo dem Individuum und der Gesellschaft geben kann. Dem Individuum die körperliche Vorbereitung und die Erziehung seines Charakters: der Gesellschaft eine bildende Schule für Individuen, die vorbereitet sind und ausgeglichen im Leben zu kämpfen gelernt haben unter Rücksichtmaßnahme auf die Persönlichkeit des Nächsten. Darin besteht offensichtlich der Unterschied zwischen dem traditionellen Ju-Jitsu und dem modernen Judo. Das Ju-Jitsu war kalte Technik und arm an nützlichen Lehren für die Gesellschaft. Das Judo von Jigoro Kano macht es sich zur Aufgabe, über den Faktor der technischen Kenntnisse hinaus, durch Kampf- und Trainingsübungen den Übenden die eigenen Grenzen und Möglichkeiten erkennen zu lassen seinen Charakter ausgeglichen zu entwickeln. Judo eignet sich als Erziehungsmethode zur Formung der Persönlichkeit so hervorragend, dass das System des Lehrers Kano in den allgemeinen Schulen als Methode für die Körpererziehung angewandt werden kann (wie es heute auch bei uns zunehmend geschieht). Der Ort, an dem Judo erlernt wird, sollte eine geeignete Atmosphäre haben, um die Aufnahme von technischen und
moralischen Lehren zu ermöglichen. Zu diesem Zweck soll sich jeder Judoka die folgenden zehn Punkte einprägen:

  • Judo formt dich, deswegen solltest du in seine Lehren Vertrauen haben und, wenn nötig, Entbehrungen erbringen, um ihnen zu folgen.
  • Das Dojo ist der Ort, wo du Judo mit Opfern erlernen wirst. Es soll für dich ein heiliger Ort sein. Du solltest ihn so respektieren wie du dein Haus respektierst.
  • Du sollst deinen Lehrer ehren, seinem Beispiel folgen und deinen Kameraden Vorbild sein.
  • Du sollst auf die Ratschläge der Fortgeschritteneren hören und dich bemühen, den dir Unterlegenen zu helfen vorwärts zu kommen.
  • Du sollst dich bei den dir Ebenbürtigen nach dem Lehrsatz von „Ji ta kyò ei“ richten.
  • „Seirykoku zenhyo“ wird dein Leben wie dein Training führen.
  • Du sollst für die Sauberkeit der Tatami, des Judogi und deines Körpers peinlich sorgen.
  • Du sollst deinen Lehrer und die Fortgeschritteneren korrekt begrüßen und immer deren Gruß erwidern.
  • Sowohl die Niederlage im Kampf als auch der Sieg sollen dich zur Vervollkommnung anspornen. Der Sieg soll nicht Anlass
    dafür sein, sich auf Lorbeeren auszuruhen.
  • Du sollst dich immer entsprechend der Ethik des Judo verhalten und nie seinen Namen und seine Prinzipien entwerten.

Die Ethik des Judo

Man kann behaupten, dass die Kraftausübung für den Menschen ganz natürlich und instinktiv, d.h. ihm angeboren ist. Auch Judo, das aus solchen instinktiven, rationalisierten und kodifizierten Aktionen besteht, hat also natürliche Ursprünge. Judo wird durch einige spezifisch japanische Prinzipien gekennzeichnet, die die Vernunft zur Basis haben und den Aktionen und Bewegungen dieser Kampfkunst die wesentlichen Merkmale verliehen haben. Die graduelle und kontinuierliche Verbesserung von Techniken hat heute das Judo sehr nahe an die Perfektion heran geführt. Es gibt natürlich eine sehr große Differenz zwischen den kraftbetonten Aktivitäten in der Vergangenheit und dem heutigen Judo. Wenn man jedoch im Koji-ki (antike japanische Chronik) nachschlägt, erfährt man, dass auch im antiken Japan Systeme existierten, deren Ziel nicht einfach nur ein realer Kampf mit tödlicher Gewalt und der effektiven Beseitigung des Gegners waren, sondern die das Ziel hatten, körperliche und geistige Kräfte durch gegenseitige Ergänzung in der Persönlichkeit zu integrieren. Es scheint, dass Momi-no-Sikune der wirkliche Gründer des Judo gewesen ist. Am Anfang waren in der Tat der japanische Kampf und das Judo eine Einheit. Trotz der Erhaltung seiner japanischen Charakteristik veränderte sich der Kampf jedoch allmählich zu einer Berufs- und Schauspieltätigkeit, während sich das Judo selbständig als erzieherische und rationale Übung entwickelte.
Natürlich gab es in den ersten Stadien der Entwicklung keinen spezifischen Namen der Judo von anderem hätte unterscheiden können. Dennoch, auch in der Legende der mythologischen Zeit (nachzulesen im Koji-ki) ist seine Existenz als Kampfmethode belegt, deren Ziel es war, mit einem Gegner zu wetteifern und ihn mit eigener Kraft ohne jegliche Waffe d.h. nur mit bloßen Händen zu besiegen.
Auf jeden Fall machte das Judo dann erstaunliche Fortschritte und setzte sich in Japan durch – jede Schule gründete ihre Übungsstätten. Geistige Kultur wurde im Judo mehr als die bloße Technik geschätzt. Im 15. Meiji Jahr führte der Lehrer Kano alle Schulen zusammen, vereinheitlichte sie und hinterließ eine unzerstörbare Grundlage für die Judoausbildung.
Seit der Katalyse von Jigoro Kano misst das Kodokan Judo dem geistigen Training, ohne das ein vollständiger Erwerb der Technik nicht möglich ist, große Bedeutung bei. Mit anderen Worten, Judo wurde als Kombination der Kultur des Geistes und des körperlichen Trainings einschließlich dem Gebrauch der Waffen betrachtet. Jeder dieser Faktoren ist für die Vervollkommnung und das Bestehen der Gesellschaft nützlich. Es ist eine oberflächliche Vorstellung, dass Judo einfach eine sportliche Zweikampf-Disziplin (wie jede andere) sei. Wirkliches Judo bedeutet rationelles Verhalten und ist nicht nur Ausdruck körperlicher Kraft. Die Lehre des Judo ist der Versuch durch körperliche Übungen Beharrlichkeit und Bescheidenheit zu erwerben. Das Training der Judotechniken schafft einen harmonischen Organismus und einen kräftigen Körperbau. Es ermöglicht die Ausführung von freien und weichen Bewegungen des Körpers und der Glieder. Außerdem führt es die Übenden auf den richtigen Weg zur Ausübung von Judo. Um das Problem besser erfassen zu können, empfiehlt es sich noch weiter über den Geist des Judo zu sprechen, damit der Schlüssel zu seinen Prinzipien klar wird.
Zwischen Ju-jutsu und Judo gibt es vor allem hinsichtlich ihrer Bedeutung einen bemerkenswerten Unterschied. Der Begriff Ju-jutsu ist seit frühester Zeit durch Kenjutsu (Fechten), Bojutsu (Übungen mit der Lanze) und Kyujutsu (Bogenschießen) ergänzt worden. Da „jutsu“ „Kunst oder Fähigkeit“ bedeutet, bedeutete Jujutsu das Studium der Art und Weise den Gegner zu töten, ihm seine Angriffskraft zu rauben oder sich zu verteidigen und im Kampf zu siegen.
Das Training und das Erlangen von Kunstfertigkeit und List sind sehr wichtige Faktoren, die auch im Judo anwendbar sind. Da aber die modernen Sportarten vom Geist des Wettkampfes und nicht von Aggression und Gewalt getragen sein sollten, wurde das Jujutsu von Lehrer Kano weiterentwickelt und modifiziert. Dies bestimmte den Moment der eigentlichen Entstehung des Judo als Sport. Es wäre jedoch ein Fehler, Judo einfach als körperliches Training und Wetteifern zu betrachten. Obwohl es den Eindruck erweckt, körperlicher Kampf zu sein, bringt es in den Bewegungen in Wirklichkeit auch die Prinzipien der wahren Lehre zum Ausdruck, realisiert durch die dem physischen Akt eigene Kreativität. Wenn man also im Kampf nur durch körperliche Stärke oder List siegt, hat man Judo noch nicht begriffen. Man kann sogar behaupten, dass sich der Übende in einem Stadium der Unreife befindet, auch wenn er den Sport schon längere Zeit ausübt. Das wirkliche Wesen des Judo ist es, dem Gegner seine Überlegenheit dadurch zu zeigen, dass keine Aktion ohne Grund ausgeführt wird. Eine Handlung eines Menschen, die nicht dem Zusammenwirken von Verstand und Körper entspringt, kann unlogisch sein und anderen Personen Schaden zufügen. Die Vereinigung von Verstand und Körper jedoch rechtfertigt die Ausführung jeder Handlung. Somit wird klar, dass die Technik des Judo nicht nur die Kunst zu kämpfen ist, sondern auch Lebensphilosophie in reinster Form, während die Kampfaktionen selbst einfach nur ein Ausdruck der Handlungen des Menschen sind. Der einzige Weg Judo richtig zu erlernen ist die Aufrichtigkeit. Wenn ein Mensch seine Handlungen ohne diese Aufrichtigkeit ausführt, muss man ihn noch als unwissend betrachten. Wenn er aber gegenüber dem Gegner unfaire Mittel anwendet und ihn besiegt, bleibt er trotz des Sieges ein Feigling. Sein Benehmen wird als unfair betrachtet und von der Gesellschaft nicht geduldet. Wenn das Individuum nicht aufrichtig ist, keinen Sinn für Zusammenarbeit besitzt und ausschließlich an seine eigenen Interessen denkt ohne sich um die der Anderen zu kümmern, wird es Sklave eines bedenklichen Zustandes und bleibt als Opfer seines Egoismus isoliert. Das Judo läßt ein Tun das die Gesellschaft verachtet nicht zu. In einem Judowettkampf erhält derjenige, der durch korrekte Aktionen siegt, von den Zuschauern verdienten Beifall zum Beweis dafür, dass Redlichkeit gelobt und anerkannt wird.
Diese Prinzipien von Gerechtigkeit und Reinheit unterscheiden Judo von seinen Vorläufern. Im Kampf sollte der Judoka diese Prinzipien durch sein Benehmen und seinen festen Willen zum Ausdruck bringen. Die Suche nach mit Vernunft gepaarter Aufrichtigkeit soll immer die Basis für sein Tun sein. So lernt der Verlierer seine schwache Stelle kennen und wird versuchen sich zu verbessern. Der Sieger soll Aktionen und Geisteshaltung perfektionieren. Die Vernunft soll in jedem Moment, besonders auch bei der Einteilung der körperlichen Kräfte den Ausschlag geben. Durch vernünftigen Einsatz der eigenen Kräfte kann man manchmal auch kräftigere und konditionsstärkere Gegner besiegen. Wenn Starke sich verkrampfen, geschieht es häufig, dass ihre Bewegungen an Schnelligkeit und ihre Technik an Präzision verlieren. Dies führt zu einer Störung des Gleichgewichts und macht sie leichter besiegbar. In diesem Zustand geschieht es häufig, dass Nachgiebigkeit der ungestümen Kraft eines Stärkeren überlegen ist. Das ist der bestmögliche Gebrauch der eigenen Kräfte, der es auch ermöglicht Stärkere zu besiegen. Im Judo ist also nicht nur der Sieg wichtig, sondern auch alle diese philosophischen Normen zu verstehen und anzunehmen, die im Grunde genommen die Regeln des zivilisierten Lebens darstellen.

Die charakteristischen Prinzipien des Judo

Der körperlichen Konstitution des Individuums wird im Judo keine große Bedeutung beigemessen. Größe, Gewicht und Kraft sind relativ unbedeutend.
Bei der Ausübung des Judo kann ein Individuum seine körperlichen Mängel weitgehend überwinden. Es ist tatsächlich möglich, gewisse Hindernisse, die für manche Sportarten unüberwindbare Barrieren darstellen, im Judo zu überwinden. Das Prinzip des Judo enthält eine besondere Auffassung, die es dem Übenden erlaubt, objektiv zu reagieren. Diese Auffassung kann man so definieren: die Gewohnheit instinktiv bestimmte Gedanken bei bestimmten Situationen zu haben.
Dies ermöglicht es einem körperlich gesunden sechzigjährigen Mann wie dem Lehrer Mifune, einen kräftigen jungen Mann, der aber noch nicht fähig ist Gedanken und Aktion zu koordinieren, stand zuhalten. Bei einem Lehrer wie Mifune ist die unpersönliche und vollkommen mechanische Haltung soweit entwickelt, dass sie zu ungewöhnlichen Ergebnissen führen kann. Die kontinuierliche Übung führt, wie bereits erwähnt, zur Entwicklung eines sechsten Sinnes. Mit welchen Mitteln ist es aber nun möglich den Lernenden dahin zu führen, diese Einstellung anzunehmen? Man soll im richtigen Moment Beine und Füße, Arme und Hände korrekt gebrauchen können und in jeder Phase einer Aktion ein dynamisches Gleichgewicht und die Orientierung behalten. Dies sind die notwendigen Elemente, um auf die richtige Bahn für ein tiefergehendes Judostudiums zu gelangen. Wir analysieren jetzt Punkt für Punkt die oben genannten Begriffe, beginnend mit dem korrekten Gebrauch der Füße. Judo wird barfuß praktiziert. Da jedoch der Gebrauch der Füße von Anfängern nur als Stütze für den Körper verstanden wird, kann man wohl verstehen dass es zunächst eine gewisse Unbehaglichkeit verursacht, wenn man sich barfuß auf der Matte bewegt. Diesen Zustand soll man unbedingt überwinden.
Es ist deshalb notwendig, eine große Anzahl von gymnastischen Übungen durchzuführen damit die Beinmuskulatur in der gewollten Weise entsprechend den Erfordernissen des Judo zu funktionieren beginnt. Werden diese Bewegungen mangelhaft ausgeführt, bleiben die Aktionen des Judoka unbeholfen und verleihen ihm nicht die nötige Fähigkeit zu autonomen Bewegungen.
Um dies besser erläutern zu können, zitiere ich einen Satz aus dem Buch von Feldenkrais „Judo für den Schwarzgurt:“ „Judolehrer, die dieser Bezeichnung würdig sind, wenden alle ihre Fähigkeiten auf, um den Schüler zur inneren Reife zu führen, indem sie ihm beweisen, dass der Grund seiner Unfähigkeit nicht angeboren, sondern lediglich ein Stillstand in der Lehre ist.“
Der Gebrauch der Hände: Die Hände haben eine bemerkenswerte Bedeutung. Sie dienen dem Fassen, um den Gegner zu „fühlen“ und um ihn zu beherrschen. Es soll klar sein, dass wir uns hier nur auf die Hände und nicht auf die Arme beziehen. Diese haben eine andere Funktion. Die Stärkung der Finger und Handgelenke mit entsprechenden Übungen sind notwendige Voraussetzungen für einen guten Judoka.
Das dynamische Gleichgewicht des menschlichen Körpers: Im täglichen Leben bedient sich der Mensch überwiegend zweier Faktoren: Intelligenz und Stärke. Im Judo kommt ein weiterer Faktor hinzu: das dynamische Gleichgewicht. Diese Kontrolle des eigenen Körpers während der Entwicklung einer Aktion ist der ausschlaggebende Faktor, der den guten Judoka zeigt. Bei den verschiedenen sportlichen Veranstaltungen geschieht es häufig, dass wir die Feinheit bemerken, auf die wir hinweisen. Während der Wettkämpfe auf den verschiedenen Ebenen kommt es oft vor, dass Tori bei Aktionen mit der Hüfte oder der Schulter dazu neigt, sich von Uke nach hinten drücken zu lassen oder sogar gekontert wird. Es ist klar, dass dies auf eine schlechte Körperhaltung zurückzuführen ist, die zu aufrecht war und das Gleichgewicht des Gegners nicht berücksichtigte. Bei höheren Gurten tritt dieser Fall seltener auf. Das bedeutet, dass das Konzept des dynamischen Gleichgewichts schwer zu verwirklichen ist und deshalb häufig erst von fortgeschritteneren Judoka gezeigt wird.
Raumorientierung: Unter den vielen Problemen, die heute beim Studium des menschlichen Raumfluges auftreten, ist eines, die Astronauten an die Orientierung im schwerelosen Raum und an die Koordination der Bewegungen zu gewöhnen. Dieses für uns neue Problem stellte sich dem Gründer des Judo, Jigoro Kano, natürlich in dem spezifischen Bereich seiner Disziplin, viel früher. Der Judoka, der solche Orientierung zu finden weiß und imstande ist aus ihr maximale Ergebnisse ganz egal in welcher Position er sich befindet, zu ziehen, hat ein Stadium bemerkenswerter Vollkommenheit erreicht. Man kann sogar sagen, dass er das Ziel des Judo erreicht hat: Selbständigkeit, Koordination der Bewegung, Harmonie, Schnelligkeit der Reflexe, Körper- und Muskelgeschmeidigikeit und die Kontrolle über den irrationalen Instinkt mit der vollständigen und perfekten Vereinigung von Geist und Körper.

Entwicklung des Judo in Deutschland

In Deutschland waren es Erich Rahn, der 1905 die erste Judo-Schule in Berlin eröffnete, und Alfred Rhode, Mitbegründer des ersten deutschen Judo-Clubs in Frankfurt 1920, die ihr Leben dem Judo-Sport widmeten und das Hauptverdienst an der Verbreitung des Judo haben. Waren vor dem Zweiten Weltkrieg auch einige japanische Lehrer in Deutschland, so war ihr Einfluss doch dadurch sehr begrenzt, dass sie immer nur für einige Tage im Jahr die lernbegierigen Deutschen versammeln konnten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nach einer von den Alliierten verordneten kurzen Zwangspause, nahm Judo als Sport einen ungeahnten Aufschwung. Hauptberufliche Lehrer – HIRANO, SUZUKI, KUROKAWA, NAGAOKA, WATANABE, HAN HO SAN -, deren Arbeit dem Leistungssport zugute kam, und die Eröffnung zahlreicher Judo-Schulen, die bisher abseits stehende Kreise mit dem Judo vertraut machten, ließen die Zahl der deutschen judoka bis 1969 auf über 90000 schnellen. Wie sehr Judo von einer einstigen japanischen Domäne zu einem weltweiten Sport geworden ist, läßt sich an dem Ergebnis der Olympischen Spiele 1964 in Tokio ablesen: Von den 16 Medaillen in vier Klassen fielen fünf an Asien, eine an Australien, zwei an Amerika und acht an Europa, darunter die Goldmedaille des Weltmeisters Geesink (Holland).

Quelle(n): S.Addamiani „Goshin-Jitsu no Kata“, W.Hofmann „Judo“